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Stricken für warme Füsse (und gegen den Weltuntergang)

Frau Schranz ist 94 Jahre alt. Sie hat schon über tausend Socken für Notleidende in Basel gestrickt und das sind erstmal die Good News am heutigen Tag. Gerngeschehen.

12/09/19, 09:41 AM

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Frau Schranz auf ihrem Strickstuhl am Fenster der Wohnung in Münchenstein. 
Foto: Daniel Faulhaber

Frau Schranz auf ihrem Strickstuhl am Fenster der Wohnung in Münchenstein. Foto: Daniel Faulhaber (Foto: Daniel Faulhaber)

Sie arbeitet zwar schon das ganze Jahr für die, die Hilfe nötig haben. Aber jetzt im Winter, kurz vor Weihnachten, wird der Dienst von Greti Schranz besonders geschätzt.

Frau Schranz strickt Socken. Eine Socke pro Tag, wenns gut läuft. Macht dreieinhalb Paar in der Woche. Insgesamt hat sie wohl schon über tausend Socken gestrickt, schätzt sie. Die Socken schickt Sie dem Schwarzen Peter, dem Verein für Gassenarbeit. Der gibt sie dann an Menschen weiter, die kalte Füsse haben. Und weil Frau Schranz strickt und strickt und strickt und gar nicht mehr aufhört damit, tragen mittlerweile sehr viele Menschen in der Region Basel ihre Wollsocken an den Füssen. Und wenn es stimmt, was Frau Schranz sagt, und es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dann stehen diese Menschen dank dieser Socken und trotz ihrer materieller Notlage immer noch mit beiden Füssen im Leben.

«So lange man warme Füsse hat, solange spürt man noch den Boden unter den Füssen. Und das ist gut, weil dann weiss man: Ich lebe noch, ich bin ein Mensch», sagt Frau Schranz. Sie ist 94 Jahre alt.

Der Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter hat am Sonntag, den 17. November, ein Foto dieser Socken auf Facebook gepostet. «Frau Schranz strickt mit Leidenschaft für die, die es dringend brauchen. Danke liebe Frau Schranz ❤️»

In den Zeitungen war von dieser kleinen Notiz nichts zu lesen. Das ist schade, denn eigentlich wäre der folgende Montag wie alle anderen Tage auch ein okeyer Tag gewesen, um darüber nachzudenken, wo die guten Geschichten sind und was das alles mit uns zu tun hat. Stattdessen: Hamsterrad (bei uns) und irre Weltpolitik (da draussen) und am Dienstag dasselbe von vorne.

Geburtstag: 25. März 1925

Frau Schranz hat einen kräftigen Händedruck und keine Garderobe, aber das macht nichts, die Jacke legen wir einfach auf einen Stuhl. Sie wohnt im dritten Stock einer Backsteinsiedlung in Münchenstein. Sie besitzt ausserdem: Eine blinde Katze (grau), einen Rollator, und eine Sichtvitrine voller Porzellanengel. Die Wohnung ist blitzsauber. Ein paar Strickdecken liegen herum. Das Sofa ist rot. Die Kaffeemaschine ist auch rot. Es gibt Kaffee und Kekse.

Greti Schranz wurde 1925 im Diemtigtal, Berner Oberland, geboren. Der Vater war Schulabwart und Siegrist. Die Mutter starb früh. Schranz kam mit sechs Jahren in die Schule, mit 15 war sie wieder draussen. Da tobte bereits seit einem Jahr der grosse Krieg und Greti Schranz, die damals noch Schmocker hiess, musste auf einem Bauernhof hart arbeiten. Monatslohn: 40 Franken.

Daran denkt Schranz, wenn sie heute auf dem Strickstuhl sitzt am Fenster in Münchenstein und in ihrer Hand eine Socke wächst. Masche um Masche um Masche. Geschenkt wurde ihr nichts. Durch Zufall oder Schicksal lernte sie ihren Mann kennen, der als Chemiker in der Ciba in Basel arbeitete. Mit 49 starb er an Leukämie. «Wie sollte ich weiterleben, ohne meinen Mann?» ruft Schranz, wenn sie daran zurückdenkt. Gegen Ende seines Lebens sei sie jeden Tag zu Fuss ins Spital auf dem Bruderholz geeilt, eine Tramverbindung gab es da noch nicht. «Ich hatte immer Angst, ich sei zu spät», sagt Schranz. An einem Ostersamstag ist der Mann dann gestorben.

Es ist die ganz grosse Tragödie im Leben der Greti Schranz-Schmocker. Der frühe Tod ihres ersten Mannes. «Liebe und Vertrauen, das war immer unser Motto», sagt Schranz. Die gemeinsame Ehe mit dem ersten Mann beschreibt sie als die schönste Zeit ihres Lebens.

Das hier nichts passiert? Vielleicht eine Fehleinschätzung

Liebe und Vertrauen, wo sind die heute? Diese Frage umkreist unser Gespräch wie die vier Stricknadeln eine Socke. Greti Schranz strickt, seit sie zehn Jahre alt ist. Sie strickte während der beiden Golfkriege und während des Mauerfalls und während all dieser weltumwälzenden Ereignisse, mit denen sie nichts zu schaffen hatte. Aber, sagt Greti Schranz, «müssen wir nicht einfach alle irgendwie schauen, dass es besser wird?»

Dann erzählt Frau Schranz von ihrer Schüchternheit als Kind vom Land und von ihrer Scham, die zu sein, die sie war. «Als ich aus dem Berneroberland nach Basel kam, das war 1951, da traute ich mich kaum in die Stadt. Denn dort waren die Schaufenster, und in denen sah ich mein Spiegelbild und ich dachte immer: So eine passt nicht hier her, das gehört sich nicht.» Sie gebar drei Söhne, einer wohnt heute in der Nachbarschaft und hilft einkaufen und putzen. Die anderen kommen sie regelmässig besuchen, aber die Grosskinder tragen lieber keine Wollsocken mehr. «Die Jungen haben da kein Interesse daran», sagt Schranz.

Das Leben ist einfach geblieben, in dieser Wohnung. Es passiert hier scheinbar nichts Grosses. Aber da könnte es sich auch um eine Fehleinschätzung handeln. Denn während die Welt Tag für Tag vor die Hunde geht und alle Augen auf die grossen Tragödien gerichtet sind, sitzt in Münchenstein eine Frau von 94 Jahren und strickt und hilft damit sehr konkret dabei mit, dass diese Welt, die ganz reale, lokale Realität für viele Menschen ein wenig besser wird. Weil sie warme Füsse haben.

Und das sei gut, sagt Schranz, weil die dann eben den Boden spüren und wissen: Ich lebe noch, ich bin ein Mensch.

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Der Schwarze Peter hat keine harten Zahlen über die Armutssituation in Basel. Michel Steiner, der seit elf Jahren im Team des Vereins arbeitet sagt aber, die Anzahl der Menschen ohne feste Meldeadresse, die sich ihre Post an die Adresse des Schwarzen Peters im St. Johann schicken liessen, habe in den vergangenen Jahren tendenziell zugenommen.

Vor elf Jahren war das Klientel des Schwarzen Peters ausserdem homogener als heute, sagt Steiner. Die Menschen gerieten heute viel schneller in die Bedürftigkeit, als das vor elf Jahren der Fall war. Schuld daran sei unter anderem das Wegfallen «einfacher» Jobs für Menschen ohne höhere berufliche Qualifikation.

Armut ist in der Schweiz folgendermassen definiert: Wenn eine Familie mit weniger als 4000 Franken im Monat leben muss, ist sie arm. Laut dem neusten statistischen Sozialbericht des Bundes hat die Armut in der Schweiz den Jahren 2014 bis 2017 um 20 Prozent zugenommen.

(Foto: Daniel Faulhaber)

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