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Himmel, Arsch und Zwirn

WARNUNG: Diese fünf Learnings aus unserem konsumkritischen Stadtspaziergang könnten Dir den nächsten Einkaufsbummel verderben.

12/17/19, 09:23 AM

Aktualisiert 12/17/19, 11:24 AM

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Elisabeth Schenk von Public Eye.

Elisabeth Schenk von Public Eye. (Foto: Samuel Hufschmid)

Bajour und rund 20 kälteresistente Leser*innen waren vergangenen Freitagabend, den 13. Dezember, spazieren und haben sich von der Expertin Elisabeth Schenk von Public Eye ein paar FUCKDEN [sprich: ˈfaktn̩] zusammentragen lassen. Klingt lustig, diese Wortneuschöpfung, ist sie aber nicht. Viele Facts und Figures aus der Welt der Modeindustrie kamen uns irgendwie bekannt vor, man weiss ja Bescheid. Aber in ihrer Dichte war es dann doch verstörend, was wir da erfahren haben. 

Man verzeihe uns also das Wortspiel. Die Tatsachenlage ist mies, oder eben: fucked. 

Die folgenden Fuckden basieren, wenn nicht anders ausgewiesen, auf Recherchen von Public Eye.

FUCKED 1

Das Trendometer dreht immer schneller, Stichwort: Fast Fashion. Unser Modemarkt ist komplett übersättigt. Er ist so übersättigt, dass zum Beispiel H&M zwischen 2013 und 2017 insgesamt 60 Tonnen ungetragener Kleider verbrannt haben soll. Um unter diesen Umständen weiterhin Klamotten an die Kunden zu bringen, produzieren die Modehäuser 1) in immer kürzeren Abständen neue Kollektionen, die die Leute in die Läden locken. Beispiel: Marktführer wie Zara und H&M bringen pro Jahr bis zu 24 neue Kollektionen auf den Markt.

Die Mode ist 2) sehr günstig. Das aggressive Marketing trägt 3) dazu bei, dass vor allem junge Menschen das Gefühl vermittelt wird, out zu sein, wenn sie nicht den jüngsten Trends folgen. Und das Konzept des Trendsettings geht auf. Der Umsatz von Kleidung im Billimodesektor hat sich zwischen den Jahren 2002 und 2015 fast verdoppelt. Von 1 Billion US-Dollar, auf 1.8 Billionen US-Dollar. Bis 2025 wird mit einem weiteren Anstieg auf 2.1 Billionen US-Dollar gerechnet.

Das Ergebnis dieses beschleunigten Trendometers oder dem Prinzip der Fast Fashion überhaupt: 10 bis 20 Prozent unserer Kleidung bleibt heute ungetragen im Schrank hängen (oder wandert mit dem Originalpreisschild dran auf den Flohmi am Petersplatz, habt Ihr auch schon erlebt, oder?). Und: Die Anzahl der Tage, die man ein Kleidungsstück vor seiner Entsorgung trägt, ist gegenüber dem Standard vor 15 Jahren um ein Drittel gesunken. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht der Ellen Mac Arthur Stiftung.

FUCKED 2

Die Zielgruppe. Billigmode wird vornehmlich von Frauen für junge Frauen gemacht, sagt Elisabeth Schenk. Wir stehen vor Tally Weijl am Marktplatz, als sie das sagt. Und tatsächlich – Zufall oder nicht, gehen hier nur junge Frauen aus und ein. Männermode wird bei Tally Weijl ohnehin nicht verkauft

Schenk sagt: «Im globalen Norden sind junge Konsument*innen Hauptzielgruppe glänzender Konsumtempel, die Mode in Freizeitvergnügen verwandeln. In sexistischen Werbekampagnen wird ihnen zudem das Gefühl vermittelt, nur mit gängigen Schönheitsidealen mithalten zu können, indem sie konsumieren.»

60-75 Millionen Menschen sind weltweit in der Textil- und Bekleidungsindustrie tätig, davon sind 80 Prozent Frauen. Auch in der Schweiz tritt dabei eine strukturelle Benachteiligung zutage. Immer mehr junge Frauen arbeiten als Aushilfskräfte zu einem deutlich niedrigeren Lohn als Fachpersonen und verdrängen damit ausgebildetes Verkaufspersonal, sagt Schenk.

FUCKED 3

Wer verliert, wer gewinnt? Auf der Forbes-Liste der zehn reichsten Männer 2018 sind drei, die ihr Vermögen unter anderem mit Textilien verdient haben. Amazon-Gründer Jeff Bezos auf Platz 1 ( mit ca. 131 Mrd US-Dollar), auf Platz 4 mit 76 Milliarden US-Dollar Bernard Arnault, der Präsident des Luxusgüter-Konzerns LVMH (zu dem u. A. auch Louis Vuitton gehört) und auf Platz 6 Amancio Ortega, Inhaber von Zara, mit 62,7 Milliarden.

Generell gilt: Die arbeitsintensiveren und umweltbelastenderen Arbeitsschritte der Textilproduktion werden in Niedriglohnländer ausgelagert, dann um die halbe Welt transportiert und auf lukrativen Märkten in Hochpreisländern verkauft.

Wie Recherchen von Public Eye und der Clean Clothing Campaign zeigen, sind die Arbeitsbedingungen der Arbeiter*innen in den Produktionsländern oft miserabel. Schenk erzählt beispielsweise von einem Zulieferer H&Ms in Bulgarien, Koush Moda, dessen Fabrikarbeiter*innen von 12-Stunden-Schichten an sieben Tagen die Woche berichten. So kämen sie auf umgerechnet 300 Franken Lohn im Monat. Das finanzielle Existenzminimum einer Familie in Bulgarien beträgt 1300 CHF pro Monat, also immer noch weit darüber.

Ein Problem ist: Der Konkurrenzdruck ist hoch, die Modeindustrie agil. Viele Produktionsländer begeben sich darum in eine Art Geiselhaft grosser Ausländischer Investoren. Lohndiskussionen werden mit Drohungen, die Produktionsstätten in billigere Regionen zu verlegen, in der Regel rasch beendet.

Beispielhaft für diese Geiselhaft ganzer Staaten im Dienste einzelner Branchen: In Bangladesch oder Kambodscha macht die Textilproduktion zwischen 70 und 80 % der Exportgüter aus. Die neuen Produktionsstätten der grossen Modehäuser entstehen dennoch vornehmlich in Afrika und nicht mehr in Asien. Laut eigenen Angaben von H&M verdienen Arbeiter*innen in Äthiopien 44 Dollar im Monat, wobei dieser Lohn sogar weit unter der von der Weltbank verwendeten absoluten Armutsgrenze von täglich 1.90 Dollar pro Person liegt. Die Armutsgrenze liegt bei 58 Dollar.

  • Lesetipp: Die ZEIT (Nr. 52, 11. Dezember, der Text ist hinter der Paywall) hat mit einer grossen Reportage die Frage beleuchtet, ob Konzerne weiterhin so tun können, als ginge sie der politische Kontext ihrer Produktionsstätten nichts an. Spoiler: Das können sie (noch) tun, aber es wird zunehmend schwerer, sich damit vor Kund*innen und vor allem vor den eigenen Mitarbeiter*innen zu rechtfertigen

FUCKED 4

Lieblingsausreden und warum sich (fast) nichts ändert. Die meisten grossen Modeunternehmen besitzen keine eigenen Fabriken, sondern setzen auf Unterhändler und Zulieferer. Dadurch bestehen auch keine direkten Arbeitsverhältnisse zwischen den Modehäusern und den Arbeiter*innen in den Fabriken in Bangladesch, China, Vietnam oder Kambodscha. Und darum ist es den grossen Markenfirmen auch ein Leichtes, die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen oder Umweltverschmutzung in den Zulieferbetrieben von sich zu weisen. Die Ausrede lautet dann: Firma XY hat keine Übersicht über die sehr komplexe Lieferkette, sie könne ihre Zulieferer*innen lediglich darum bitten, sich an den firmeneigenen Verhaltenskodex zu halten.

Tatsache sei, sagt Schenk: Laut den UNO-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte müssen Unternehmen die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Menschenrechte während aller Produktionsschritte und in der Lieferkette eingehalten werden. Damit die Zivilgesellschaft (also zB NGOs wie Public Eye) dies überprüfen können, sei eine transparente Lieferkette notwendig.

Und hier tut sich tatsächlich etwas, sagt Schenk. Eine Untersuchung unter 45 Modeunternehmen zeige, dass 27 von ihnen ihre Lieferkette ganz oder zumindest teilweise deklarieren.

Transparenz ist wichtig, damit eben die Menschenrechtswürdige und Arbeitsplatzrechtliche Minimalstandards eingefordert werden können. Damit Watchdogs wie Public Eye wissen, an wen Sie sich wenden und gegen wen sich allfällige Kampagnen richten. Schenk erinnert in diesem Zusammenhang an die Katastrophe von Rana Plaza 2013, als beim Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch 1138 Menschen getötet wurden. 

FAKT 5

Was können wir tun? Diese Frage wirft Elisabeth Schenk zum Schluss des Rundgangs auf, wir sind mittlerweile beim Brunnen unter dem Münsterberg angekommen.

Erstens sei bereits damit gedient, den eigenen Konsum in Frage zu stellen. Warum konsumiere ich etwas? Aus Langeweile? Aus Statusgründen, also um mit dem Trend zu gehen? Schenk betont, dass wir durch aufdringliche Werbung andauernd in unseren Kaufentscheidungen beeinflusst werden, also Fremdbestimmt konsumieren. Dem könne man vorbeugen, indem man eine innere Liste von Checkfragen aufstelle.

Weitere praktische Tipps: Sich beim Blick in den Kleiderschrank fragen, was man wirklich braucht. Secondhand einkaufen. Die Wegwerfmentalität überdenken und beim Einkaufen gut kombinierbare Basics bevorzugen. Labels kritisch hinterfragen. Kleider, die man bereits besitzt, schonend behandeln. Heisst: Schonend waschen und nicht tumblern. Und: Die Kleider lange tragen, auch in den billigsten T-Shirts stecken Ressourcen und harte Arbeit, sagt Schenk.

Zum Abschluss appelliert sie daran, politisch aktiv zu werden, oder sich zum Beispiel in Kampagnen wie der Clean Clothes Campaign für eine gerechtere, nachhaltigere Textilbranche zu engagieren.

Für Interessierte haben wir HIER eine Übersicht über nachhaltigere Einkaufsmöglichkeiten in Basel zusammengetragen.

Der konsumkritische Stadtspaziergang war nach dem LSD-Bikeride und dem Frauenstadtrundgang bereits der dritte Bajour-Ausflug in Kooperation mit Expert*innen. Hier drei Gründe, warum wir das tun.

  1. Bajour will nützlich sein. Wir wollen unseren Leser*innen, der Bajour-Community, einen neuen, analogen Zugang zu relevanten Informationen schaffen.
  2. Wir wollen erreichbar sein. Die Veranstaltungen sollen auch dazu beitragen, mit uns Redaktor*innen ins Gespräch zu kommen. Uns kennenzulernen und uns mit Fragen, Kritik, Anregungen einzudecken. Wir wollen sichtbar sein, keine anonymen Welterklärer*innen hinter verschlossenen Bürotüren.
  3. Bajour unterstützt Zusammenarbeit. Wir entscheiden uns ganz bewusst dafür, mit diesen Kooperationen auf bereits bestehende Expertise zurückzugreifen. Es gibt bereits hervorragende Initiativen in dieser Stadt. Die wollen wir wertschätzen und Zusammenarbeit erscheint uns das bessere Mittel, als in Konkurrenz zu treten.

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