Kopiert!

Wer sind hier die Substanzlosen?

Für viele Partygänger*innen ist der Ausgang ohne Drogen oder Alkohol kein Thema. Wir haben drei Menschen getroffen, die gerne nüchtern feiern und sie gefragt: Was ist für euch Rausch?

10/11/19, 12:44 PM

Kopiert!
Suleika (links) und Gilles (rechts) feiern gerne nüchtern.

Suleika (links) und Gilles (rechts) feiern gerne nüchtern.

Nüchtern betrachtet ist es so, dass Nachtleben und Nüchternheit ausser dem Anfangsbuchstaben rein gar nichts verbindet. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass man sich gefühlt durch die halbe Stadt telefonieren muss auf der Suche nach «so einem», einer von «den Cleanen» oder den «Abstinenten». Und wie sagt man «denen» eigentlich, ohne sie sofort und unangenehm zu pathologisieren?

Doch wenn man sie findet und wenn sie zu erzählen beginnen, dann wird es spannend, vor allem für «uns», die Trinker*innen, Kiffer*innen, Raucher*innen. Die Rauschmittelkonsument*innen eben. Die abstinenten Zeugen unserer Räusche können helfen, über uns selber nachdenken, also eben nüchtern betrachten, was wir meistens nur zerschossen erleben und dann vor allem nicht mehr erinnern: den Rausch.

Hier sind drei Menschen, die über den Rausch im Nüchternsein berichten.

Suleika: 26 Jahre alt. Fotografin, Grafikdesignerin und DJane. Wohnt seit fünf Jahren in London (links im Bild).

Gilles: 35 Jahre alt. Hochbauzeichner und Architekt. Wohnt in Basel (rechts im Bild).

Beni: 35 Jahre alt. IT-Supporter, Ex-Velokurier, DJ, Veranstalter. Wohnt in Basel (verzichtet auf ein Foto).

Beni: Ich bin als DJ und Veranstalter aktiv, lege Hardcore/Gabber und Breakcore auf. In dieser Musik ist so viel los, da wird mir nie langweilig und ich will mit dem Kopf bei der Sache sein. Ähnlich geht es mir bei Death Metal oder Hardcore-Konzerten, ich meine, das Licht, der Moshpit, die Musik. Seit ich nicht mehr trinke, fühle ich mich noch stärker zu eher extremeren Musikstilen hingezogen. Da gibt es einfach verdammt viel zu erleben.

Rausch ist für mich ein Gefühl des Aufgelöstseins und des absoluten Zustands im Moment. An Hardcore-Partys kann man auch ohne Substanzen ganz schön visuell abtrippen. Wenn ich mich im Trockeneis-Nebel verlieren kann, wenn das Stroboskop flirrt, wenn die Musik abgeht, dann kann ich schon in einen Rauschzustand kommen. Aber wenn mich jemand anspricht, dann bin ich sofort wieder voll da und kann auf mein Gegenüber eingehen. Ich glaube, man kann einen Rauschzustand gezielt erreichen. Es ist einfach schwieriger ohne Substanzen. Drogen und Alkohol sind eine Abkürzung.

Gilles: Ich erlebe Rausch beim Tanzen, ich liebe es, mich im Tanzen zu verlieren. Ich gehe oft an Technoparties. Vor allem ins Elysia oder ins Nordstern, die Musik entspricht mir dort am meisten. Und man kann sein Auto praktisch parkieren.

Suleika: Ich trinke aus zwei Gründen kein Alkohol. Als ich Teenager war, hatte das familiäre Gründe. Ich bin muslimisch erzogen, meine Eltern sind Sufis. Heute identifiziere ich mich nicht mehr als Moslem, aber ich mag den Kontrollverlust einfach nicht. Ich habe drei, vier Mal Alkohol probiert und gemerkt, wie ich tollpatschig werde. Dann hab ichs gelassen. Der Grat zwischen keine Hemmungen zu haben, und sich komplett zu blamieren, ist dünn.

Gilles: Ich trinke keinen Alkohol seit ich 15 bin. Der exzessive Umgang meiner Freunde mit dem Alkohol und dem einhergehenden Kontrollverlust, war nichts für mich. Kotzen, nicht mehr nach Hause finden, etcetera. Da habe ich schon gespürt, dass ich keine Lust drauf habe. Dass ich damals noch nicht geoutet war und auf keinen Fall wollte, dass ich mich im Suff selber oute, hat diesen Entscheid bestimmt bekräftigt.

Beni: Ich habe in meinen Zwanzigern ziemlich ordentlich getrunken. Ich meine, ein, zwei Bier, das macht absolut keinen Sinn. Es war das ganz normale wochenendliche Rauschtrinken. Ich habe mir mal einen Zahn ausgeschlagen im Suff, einmal den Fuss gebrochen. Danach dachte ich jeweils: Glück gehabt, es hätte etwas Schlimmeres passieren können. Zwischen 20 und 30 habe ich mal zwei Jahre komplett ausgesetzt, habe einfach nichts getrunken. Im Studium und als Velokurier habe ich dann sehr schätzen gelernt, einen klaren Kopf zu haben und nicht bis Mitte Woche verkatert zu sein. Mit 30 habe ich ganz aufgehört.

Suleika: Ich wohnte seit fünf Jahren in London, hier gibt es tausend Lebensentwürfe und es ist nicht direkt exotisch, wenn man nicht trinkt. In Basel war das noch anders. Wenn ich sagte, ich trinke nicht, dann wollten die Leute einen Grund erfahren. Das sollte am besten einer sein, der ein Unglück als Auslöser des Nichttrinkens voraussetzt. Ein Unfall, eine Krankheit, einmal krass übertrieben, einen Alkoholiker in der Familie. Etwas in der Art. Offenbar hilft das vielen, diesen Ausnahmezustand der Nüchternheit im Ausgang besser zu verstehen.

Beni: Gerade unter Männer ist das gemeinsame Bier eine Institution. Man sagt nicht, lass uns reden, sondern man sagt eben: Gehen wir was trinken. Bro Talk ohne Bier, das ist schwierig.

Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich Menschen in meinem Umfeld hatte, die ich vor allem zum Trinken traf. Das Trinken war ein Vorwand zum Reden. Ob es ums Reden oder Trinken geht, war irgendwann nicht mehr klar. Am Schluss ist man eben besoffen und geht heim. Am nächsten Tag kommt dann dieses kollektive Rauschverdauen. «Boaa, gestern haben wir wieder Gas gegeben, he.» Diese Beziehungen, die sich stark ums Trinken drehten, die sind irgendwann auseinandergegangen.

Suleika: Ich werde in gewissen Kreisen nicht mehr eingeladen, weil die Leute denken ich sei komisch (lacht). Sie verstehen es einfach nicht. Meine Anwesenheit lässt sie offenbar unwohl sein, dann sind sie lieber unter sich. In meinem engeren Freundeskreis ist das Thema aber durch, da kommentiert das niemand mehr.

Beni: Als ich diese Pausen machte in den Zwanziger, da sind mir die Leute mit ihren Beichten und ausschweifenden Geständnissen auf die Pelle gerückt, wenn ich sagte, ich trinke nicht. Auch wenn ich nie danach gefragt habe. Dann hiess es: «Was?!? Oh wow, das will ich auch, aber ich könnte das nie. Aber weisst du, ich kann auch mal nüchtern sein blablabla.» Zeitweise kam ich mir vor wie so ein Blitzableiter für das schlechte Gewissen der Trinker um mich herum.

Gilles: Wenn ich sage, ich trinke nicht gibt es immer dieselben drei Reaktionen. Erstens: Überraschung und Unglaube. Zweitens: Nachhaken – warum? Drittens: Beichten. «Also ich könnte das nicht». Manchmal sagen mir Leute, sie wünschten, sie könnten ebenfalls ausgehen und nüchtern bleiben. Aber das nehme ich nicht mehr ernst. Die meisten Leute wollen den Rausch.

Beni: Man muss Nein sagen lernen, wenn man nicht trinkt.

Suleika: Ich werde oft belächelt wenn ich sage, ich trinke nicht. «Jööö, dann weisst du gar nicht wie das ist?!?» Als wäre ich ein Teenager. 

Beni: Oft kommt der Spruch mit dem Spass: «Hast du denn nicht gerne Spass?»

Gilles: Der Ausgang wird für die meisten im Teenageralter mit dem Rausch verknüpft. Und das bleibt dann einfach so. Ausgang gleich Rausch. Ich glaube, viele hören eher ganz damit auf, in den Ausgang zu gehen, als dass sie aufhören, zu trinken.

Beni: Als DJ mag ich es, wenn die Leute vor mir auf der Tanzfläche abgehen. Da stört es mich auch nicht, wenn ich weiss, dass viele voll "druff" sind. Auf MDMA sind die meisten auch sehr bei sich und geniessen das Tanzen einfach, da gibts selten Probleme.

Gilles: Mir gefällt das, wenn beim Techno alle in ihrer eigenen Welt schweben. Diese friedliche Koexistenz, das hat was Schönes und es stört mich nicht, wenn der Konsum von Substanzen dazu führt, dass die Stimmung gut ist.

Übermässiger Konsum der Rauschmittel führt immer wieder dazu dass sich der eine oder andere daneben benimmt und die Harmonie stört.
Anrempeln, Belästigungen, herumschreien und respektloses Verhalten.
An Technokonzerten sind die zwar eher selten, aber weil ich nüchtern bin, fällt mir das enorm auf. Ich muss dann ganz bewusst an was Anderes denken, weil mich nervt, wenn jemand durch seine Unachtsamkeit die Stimmung kaputt macht.

Suleika: Betrunkene Menschen laufen im Club manchmal einfach in mich hinein, das verstehe ich dann nicht. Ich stehe doch hier, wie kann man einfach in mich hineinlaufen. Es kommt auch vor, dass ich mich bedroht fühle. Auf Technoparties ist es meistens entspannter, dort empfinde ich es als friedliches Nebeneinander.

Würde ich trinken, ginge das insgesamt ziemlich ins Geld. Das ist auch ein Vorteil am nüchtern sein: Es ist günstiger.

Gilles: Ich kann bis um 8 Uhr morgens ausgehen und wenn ich dann wieder wach bin, habe ich zwar müde Beine aber sonst gehts mir top.

Gemäss Bevölkerungsbefragungen trinken fast neun von zehn Personen ab 15 Jahren zumindest gelegentlich Alkohol.

Gemäss Bevölkerungsbefragungen trinken fast neun von zehn Personen ab 15 Jahren zumindest gelegentlich Alkohol.

Pro Kopf tranken Schweizer*innen 55 Liter Bier im Jahr 2018. Bei einem Preis von 5.10 pro Stange (Durchschnittspreis in der Schweiz) und der Annahme von 0.33 cl pro Stange macht das eine Pro-Kopf-Ausgabe von 841.50 Franken im Jahr.

Gemäss Bevölkerungsbefragungen trinken fast neun von zehn Personen ab 15 Jahren zumindest gelegentlich Alkohol (85.8%), etwa eine von zehn Personen trinkt täglich Alkohol (9.5%).

Das Gesamtausmass des Alkoholkonsums ist in den letzten 20 Jahren rückläufig.

Laut dem Bundesamt für Statistik geben sich 20.7 Prozent der Männer einmal pro Monat dem Rauschtrinken hin, bei den Frauen sind es 11.1 Prozent.

Wird geladen