Es braucht eine Strategie gegen Antisemitismus

Die Zahlen im Antisemitismusbericht 2023 sind alarmierend. Was wenig Beachtung findet: Sie zeigen nur eine Tendenz auf, die Dunkelziffer ist nach wie vor hoch. Zudem braucht es mehr staatliches Engagement beim Monitoring von Antisemitismus. Ein Kommentar.

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Foto: Keystone / Arne Dedert

Der Mechanismus funktioniert jedes Jahr gleich: Kaum wird der Antisemitismusbericht publiziert, werden die dort publizierten Zahlen von den Medien übernommen. «Beispiellose Zunahme von Anfeindungen gegen Juden» wird zum Beispiel bei Tamedia getitelt. Dies geschieht reflexartig, ohne zu hinterfragen, wie die Zahlen erhoben werden und wie aussagekräftig sie tatsächlich sind. Eine Bemerkung vorweg: Es ist offensichtlich, dass der Antisemitismus in der Schweiz seit dem 7. Oktober stark angestiegen ist.

Die 155 antisemitischen Vorfälle in der realen Welt (exklusive Online), auf die der Antisemitismusbericht verweist, sind eine beunruhigende Tatsache. Auch die Zunahme im Vergleich zum Vorjahr ist klar ersichtlich: So wurden zehn Tätlichkeiten gemeldet (2022 war es eine), sechs davon alleine im Oktober. Die physischen Übergriffe zeigen deutlich, dass die antisemitischen Vorfälle eine neue Qualität aufweisen. 

Die Zahlen spiegeln kaum mehr als eine Tendenz wider.

Dennoch sind die Zahlen, die der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und die Gesellschaft gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) in ihrem Antisemitismusbericht festhalten, nicht wirklich aussagekräftig. Sie spiegeln kaum mehr als eine Tendenz wider, da die Dunkelziffer aller Wahrscheinlichkeit nach viel höher liegt.

Denn es werden nur Vorfälle gezählt, die tatsächlich beim SIG oder der GRA gemeldet oder zum Beispiel durch die Medienberichterstattung bekannt werden. Im Bericht wird auf diese Schwachstelle selbst hingewiesen. Es heisst: «So muss auch in der Schweiz von einer hohen Dunkelziffer an Vorfällen ausgegangen werden, die weder gemeldet noch zur Strafanzeige gebracht werden.» 

Je mehr Zeit die Mitarbeiter*innen damit verbringen, nach Antisemitismus im Netz zu suchen, desto mehr Fälle finden sie.

Noch weniger überzeugend sind Ergebnisse des Online-Monitorings. Denn hier werden nur Fälle aufgenommen, die im Internet gesichtet werden. Das heisst, je mehr Zeit die Mitarbeiter*innen damit verbringen, nach Antisemitismus im Netz zu suchen, desto mehr Fälle finden sie. Der SIG recherchiert also im Internet, in den sozialen Medien sowie in den Kommentarspalten der Online-Medien und nimmt antisemitische Vorfälle auf.

Er gesteht selbst ein: «Es liegt in der Natur des Internets, dass es nicht möglich ist, alle Social-Media-Plattformen und Websites vollständig zu beobachten.» Dennoch wird im Bericht behauptet, in der digitalen Welt sei es 2023 zu 975 Vorfällen gekommen (2022: 853). Gibt es 2023 tatsächlich 122 mehr Online-Vorfälle als 2022? Oder hatte der SIG nach dem 7. Oktober schlicht nicht mehr Kapazitäten, das Netz zu durchsuchen? 

Der Dachverband selbst hat das Problem offenbar erkannt: Seit Januar organisiert er sein Online-Monotoring neu. Mithilfe einer Software werden vor allem Social Media und die Kommentarspalten von Onlinemedien nun breiter durchsucht. Dadurch werde ein «umfassenderes Bild des Online-Antisemitismus in der Schweiz und eine genauere Analyse desselben möglich», wie es im Bericht heisst. 

Antisemitismusbericht SIG GRA

Was zudem verwundert: Für die vergleichsweise kleine Schweiz werden jedes Jahr zwei unterschiedliche Antisemitismusberichte herausgegeben. Derjenige von SIG und GRA für die deutsch- italienisch- und rätoromanischsprachige Schweiz und der von der Coordination intercommunautaire contre l'antisémitisme et la diffamation (CICAD) für die Romandie. Somit gibt keine einheitliche Publikation und nur eine gemeinsame Synthese beider Berichte, die allerdings für 2023 noch nicht vorliegt. Bisher ist es nicht gelungen, einen gemeinsamen Bericht herauszugeben. 

SIG und GRA kann man aufgrund der vorhandenen Ressourcen wohl kaum einen Vorwurf machen.

Stellt sich die Frage, wer eigentlich für den Antisemitismusbericht zuständig ist? In der Schweiz nehmen sich jüdische Organisationen des Themas an, was aussergewöhnlich ist. In Deutschland wird der Bericht zum Beispiel staatlich unterstützt und vom Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus herausgegeben. Man kann SIG und GRA aufgrund der vorhandenen Ressourcen wohl kaum einen Vorwurf machen, dass die erhobenen Zahlen nicht wirklich aussagekräftig sind.

Sie selbst fühlen sich offensichtlich allein gelassen. Im Bericht machen sie zum wiederholten Male darauf aufmerksam, das es vor allem auf der Ebene des Bundes noch mehr staatliches Engagement beim Monitoring des Antisemitismus und Rassismus braucht: «Es kann nicht sein, dass diese Aufgaben allein in der Verantwortung von NGOs und Verbänden liegen», so heisst es.

Man stelle sich vor, Betroffene von Mobbing müssten selbst Mobbingfälle in der Schweiz erfassen.

Die GRA und die SIG geben den Bericht seit 2010 gemeinsam heraus, die Kosten belaufen sich nach Aussagen der GRA auf rund 185’000 Franken. Bereits seit Jahren fordern SIG und GRA in ihrem Bericht ein grösseres staatliches Engagement, «damit eine umfassende 360-Grad-Sicht des Themas Antisemitismus in der Schweiz erstellt werden kann». Es heisst im aktuellen Bericht, der Bund sollte die verschiedenen bestehenden Beobachtungs- und Analyseinstrumente aus der Zivilgesellschaft unterstützen und die eigenen Beobachtungs- und Analyseinstrumente stärken und weiterentwickeln.

Ein Schritt in die richtige Richtung könnte die geplante Strategie gegen Antisemitismus sein, die von einer Mehrheit des Parlaments gefordert wird und über die der Bundesrat nun entscheiden muss. Wenn es der Regierung ein Anliegen ist, aussagekräftige Zahlen von Antisemitismus in der Schweiz zurückgreifen zu erheben, sollte sie sich einbringen.

Denn, was eigentlich absurd anmutet: Bisher liegt es in der Verantwortung jüdischer Organisationen, antisemitische Vorfälle in der Schweiz zu erfassen und publik zu machen. Man stelle sich einmal vor, Betroffene von Mobbing müssten selbst Mobbingfälle in der Schweiz erfassen. Der Aufschrei wäre gross.

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